Diese Geschichte basiert auf einer alten Erzählung, deren Ursprung nicht eindeutig belegt ist. Die hier verwendete Version ist meine persönliche, neu erzählte Interpretation.

Die zwei Wölfe

Ein alter Schamane saß am Lagerfeuer, als sich seine Enkelkinder zu ihm setzten. Sie liebten seine Geschichten – nicht nur, weil sie spannend waren, sondern weil in ihnen immer etwas verborgen lag, das man erst beim zweiten oder dritten Hinhören wirklich verstand.

Der Schamane schwieg eine Weile, dann sah er die Kinder nacheinander an und sagte:

„In jedem von uns leben zwei Wölfe. Sie kämpfen miteinander – jeden Tag.  
Der eine, der dunkle Wolf, ist wild, wütend, ängstlich. Er lebt von Groll, Neid, Eifersucht, Schuld und Scham.  
Der andere, der helle Wolf, ist ruhig, freundlich, mutig. Er nährt sich von Liebe, Mitgefühl, Freude, Vertrauen und Wahrheit.“

Die Kinder hörten gespannt zu.

Eines von ihnen fragte schließlich:

„Großvater… welcher der beiden Wölfe gewinnt den Kampf?“

Der alte Mann lächelte.  
„Der, den du fütterst.“

Stille. Ein paar Kinder nickten, als hätten sie die Antwort erwartet. Andere schienen nachdenklich. Ein Kind runzelte die Stirn und fragte leise:

„Aber… ist es nicht gefährlich, den dunklen Wolf zu ignorieren? Was passiert, wenn wir ihn verhungern lassen?“

Der Schamane blickte lange ins Feuer. Dann antwortete er ruhig:

„Weißt du… viele glauben, sie müssten den dunklen Wolf bekämpfen oder loswerden. Aber das ist ein Irrtum.

Wenn du den hellen Wolf fütterst und den dunklen ignorierst, wird der dunkle Wolf nur wütender.

Er wird sich in der Dunkelheit verstecken, auf den Moment warten, an dem du schwach bist – und dann wird er angreifen.

Du kannst nicht einfach einen Teil von dir verhungern lassen.

Aber wenn du beide Wölfe kennst, wenn du ihnen zuhörst, sie respektierst und achtsam führst… dann kämpfen sie nicht mehr gegeneinander.  
Dann dienen sie dir gemeinsam.

Der dunkle Wolf trägt deine tiefsten Wunden, aber auch deine Instinkte, deinen Schutz, deine Entschlossenheit.  
Der helle Wolf bringt deine Liebe, deine Klarheit, deine Verbundenheit mit allem, was lebt.

Wenn du lernst, beide zu nähren – auf ihre Weise – dann führen sie dich gemeinsam auf deinem Weg.“

Wieder wurde es still.  
Nur das Knistern des Feuers war zu hören.  
Und vielleicht… tief in den Herzen der Kinder… ein leises Heulen.

Ein Gedanke zum Schluss

Diese Geschichte begleitet mich seit vielen Jahren – und sie wird mit jedem Mal wertvoller.  
Sie erinnert mich daran, dass Heilung nicht durch Kampf entsteht, sondern durch Integration.  
Und dass wir nicht entweder stark oder verletzlich sein müssen – sondern beides, zur richtigen Zeit, am richtigen Ort.

Welchen Wolf fütterst du heute?